Robert Jäschke & Steffen Martus
Dieses explorativ konzipierte Projekt beschäftigt sich mit der Identifizierung und Charakterisierung von Schlüsselstellen in literarischen Werken. Wir verstehen darunter Passagen, die für die Textinterpretation von Expertenleser*innen besonders wichtig sind. In einem Mixed-Methods-Ansatz wollen wir vorrangig empirisch untersuchen, welche textuellen Merkmale literarischer Genres sich durch Zitat- und Zitiermuster ergeben. Zweitens wollen wir untersuchen, ob sich „Interpretationsgemeinschaften“ (S. Fish) profilieren lassen. Die wesentliche Herausforderung des Projekts besteht darin, dass Schlüsselstellen vermutlich durch komplexe, miteinander verwobene intrinsische und extrinsische Faktoren gekennzeichnet sind, dass sich Ansätze zur Identifizierung und Analyse solcher Faktoren noch in einem frühen Stadium befinden und dass sich literatur- und computerwissenschaftliche Forschung hierbei bislang nicht berühren. Wir suspendieren vorerst die umstrittene Entscheidung über den Zusammenhang zwischen extrinsischen und intrinsischen Faktoren. Stattdessen werden wir die Praxis des Interpretierens beobachten, um zu erforschen, worin der „poetische und rhetorische“ Charakter (G. Braungart) der tatsächlich interpretatorisch bevorzugten Passagen besteht, was wir durch die Struktur von Schlüsselstellen über den Text als Ganzes erfahren und inwiefern sich diese Ergebnisse für die Verbesserung von Verfahren zur automatisierten Analyse literarischer Texte nutzen lassen.Grundlage der Untersuchung sind drei Typen von Korpora: literarische Werke, bibliographische Metadaten und Aufsätze aus dem Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Aus pragmatischen Gründen konzentrieren wir uns auf die Genres „Erzählung“, „Novelle“ und „Drama“ aus dem Bereich der neueren deutschen Literatur, weil wir auf bestehende Korpora zurückgreifen können und Methoden der computergestützten Literaturwissenschaft für diese Textarten tragfähige Ergebnisse erbracht haben. Aus einer systematischen Perspektive konzentrieren wir uns bei der Charakterisierung von Schlüsselpassagen auf stilistische Eigenschaften, Figurengestaltung, Handlungsaufbau und Themen. Gattungsgeschichtliche Aspekte werden eine wichtige Rolle spielen, da wir kanonische Annahmen über die Struktur von narrativen und dramatischen Texten berücksichtigen.Das Projekt ist in drei Arbeitspakete gegliedert, die auf drei literarische Korpora abgestimmt sind. Jedes Arbeitspaket enthält Aufgaben für Informatiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen. Die technischen Aufgaben konzentrieren sich vor allem auf die Entwicklung von Methoden zur Extraktion, Anreicherung und Analyse von Daten. Von literaturwissenschaftlicher Seite werden insbesondere etablierte Theorien auf der Grundlage der gewonnenen Daten überprüft und in praxeologischer Perspektive ausgewertet. Die Projektergebnisse werden zu einem Konzept von Schlüsselpassagen in Theorie und Praxis zusammengefasst.