Literatur strukturieren - Varianten und Funktionen reflexiver Passagen in fiktionalen Erzähltexten

Anke Holler, Caroline Sporleder & Benjamin Gittel

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, lautet der erste Satz von Tolstoys “Anna Karenina”, eines der meist diskutierten Beispiele für Reflexionen in fiktionaler Literatur. Obwohl auch Laien solche reflexiven Passagen in Romanen von Passagen unterscheiden, die etwa über Handlungen berichten oder Figuren beschreiben, sind reflexive Passagen in der Literaturwissenschaft bislang nicht als eigenständiger Forschungsgegenstand etabliert. Vor diesem Hintergrund führt das Projekt Erkenntnisse aus Literaturwissenschaft, Linguistik, computationeller Modellierung sowie quantitativer und qualitativer Textanalyse zusammen, um (i) ein umfassendes Konzept „reflexiver Passagen“ auszuarbeiten und zu formalisieren, (ii) solche reflexiven Passagen in erzählender fiktionaler Literatur zu identifizieren und zu klassifizieren sowie (iii) die Muster ihres Auftretens im Laufe von circa 350 Jahren Literaturgeschichte zu erklären. Zu diesem Zweck greift das Projekt auf Arbeiten zur automatischen Erkennung von Reflexionen sowie verwandter Phänomene wie Generizität und epistemischer Status in anderen Textsorten zurück und erweitert und kombiniert diese, um mithilfe linguistisch orientierter Ansätze des maschinellen Lernens so Autor/Erzähler-attribuierte und Figuren-attribuierte reflexive Passagen zu identifizieren. Durch die Anwendung unserer Modelle auf ein großes, mehrere Jahrhunderte abdeckendes Korpus der deutschen Literatur ist es möglich, Zeitabschnitte zu identifizieren, in denen reflexive Passagen gehäuft vorkommen („Konjunkturperioden“). Zudem werden wir zwei literaturgeschichtlich besonders prominente Varianten eines reflexionsgesättigten Erzählens näher betrachten: das essayistische und das enzyklopädische Erzählen. Wir werden automatisch identifizierte essayistische und enzyklopädische Passagen in fiktionalen Erzähltexten mit nicht fiktionalen Essays und enzyklopädischen Texten vergleichen und Ähnlichkeiten und Unterschiede in Bezug auf Stil, Thema und den epistemischen Status ihrer (Teil-)Sätze untersuchen, um sowohl interne als auch externe Funktionen dieser Passagen, d.h. für die literarischen Werke selbst und ihren sozio-kulturellen Kontext zu bestimmen. Unser Beitrag zum übergeordneten Schwerpunktprogramm „Computational Literary Studies“ besteht darin, (i) ein grundlegendes literaturtheoretisches Konzept mithilfe einer qualitativen und quantitativen Korpusstudie zu operationalisieren, (ii) die methodischen Optionen zur Strukturierung literarischer Texte zu erweitern und (iii) neue Computermodelle zur Erkennung reflexiver Passagen und verwandter Phänomene zu entwickeln, die Nützlichkeit dieser algorithmischen Methoden für die Literaturgeschichtsschreibung zu demonstrieren, zur Integration ihrer Ergebnisse in den qualitativen Forschungsprozess beizutragen sowie (iv) ein Korpus für literarische Reflexionen manuell zu annotieren und der Forschergemeinde zur Verfügung zu stellen.

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