Ulrike Henny-Krahmer, Roger Labahn & Holger Helbig
Ulrike Henny-Krahmer, Roger Labahn & Holger Helbig Die Literaturtheorie bietet ausgearbeitete Konzepte zur Beschreibung des narrativen Raums, der hier als der konkrete Raum der erzählten Welt verstanden wird, in dem Figuren leben, handeln und sich bewegen. Um die vorhandenen Konzepte jedoch in computergestützten Analysen nutzen zu können, müssen sie formalisiert und auf Merkmale abgebildet werden, die auf der sprachlichen Oberfläche der Texte erfasst werden können. Insbesondere für Ansätze des Distant Reading ist es notwendig, Algorithmen zu entwickeln, die eine automatische Annotation der Merkmale ermöglichen. Für die computergestützte, quantitative Analyse des narrativen Raums wurden bisher allerdings nur wenige Vorarbeiten geleistet. Um eine solide Basis für weitere computergestützte Forschung zu schaffen, wollen wir Methoden zur Erkennung räumlicher Entitäten entwickeln, d.h. aller Arten von Verweisen auf den narrativen Raum in literarischen Texten, wie z.B. Toponyme, allgemeine raumbezogene Substantive oder deiktische Ausdrücke. Für diese Aufgabe verwenden wir bestehende semantische Wortnetze und Techniken des maschinellen Lernens, insbesondere neuronale Netze, die in der Lage sind, den sprachlichen Kontext der relevanten Raumbezüge zu berücksichtigen. Zusätzlich zur grundlegenden Erkennung der räumlichen Entitäten werden Methoden entwickelt, um diese in übergeordnete Kategorien zu klassifizieren, wie z.B. Erwähnungen von Raum, die direkt für die Handlung relevant sind, vs. Beschreibungen des Settings vs. weitere, andere Referenzen auf räumliche Entitäten. Ein drittes Ziel des Projekts ist es, sich der semantischen Struktur von Erzählwelten und der symbolischen Bedeutung von Teilräumen zu nähern, indem das Auftreten von Raumbezügen in den Texten mit Topics und Sentiments verknüpft wird. Die empirische Grundlage bilden Korpora von spanisch- und deutschsprachigen Romanen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die ausgewählt wurden, um mehrsprachige und/oder sprachunabhängige Lösungen zu entwickeln. Durch manuelle Annotation werden Goldstandard-Referenzdaten erstellt, die dann für die Evaluierung der Methoden verwendet werden. Aus einer literaturgeschichtlichen Perspektive wird untersucht, wie die Darstellung von Raum in den Romanen mit Fragen nationaler, regionaler und anderer raumbezogener Identitäten zusammenhängt, in Anlehnung an das Konzept der “imagined communities” (Anderson). Dies geschieht, indem die Analyse der räumlichen Bezüge in den Texten mit den Nationalitäten der Autoren, den Erscheinungsorten der Romane und den Themen der Texte verknüpft wird. Mit den korpusbasierten Studien werden bestehende literaturgeschichtliche Fragestellungen wie die Rolle von Romanen im Prozess der Nationenbildung im 19. Jahrhundert und ihre Funktion bei der Herausbildung zweier deutscher Identitäten in der Nachkriegsliteratur des 20. Jahrhunderts mit neuen, computergestützten Methoden und auf einer breiteren empirischen Basis als bisher bearbeitet, um bisherige Forschungsergebnisse zu stützen und zu erweitern. Weitere Informationen finden Sie auf der Projektwebsite: https://www.canspin.uni-rostock.de/